Sutra

Mein Name ist Shigeo, ich bin Mönch. Ein Weg, den ich schon früh und aus Überzeugung beschritten habe. Oft werde ich gefragt, ob ich denn Übernatürliches spüren kann. Und, ja, mit genügend Training kann man so etwas entwickeln, so wie ich es auch tat. Daher sagte mir mein Meister einst, ich solle vorsichtig sein und niemals Sutren außerhalb des Hauses lesen. Es macht einen Unterschied ein Sutra in einem Tempel vor Buddha oder woanders zu rezitieren.

Wie so oft ist das Verbotene das, was einen reizt. Ich wollte es einfach wissen, eben mal ausprobieren.

Also ging ich eines Tages mit einem ehemaligen Arbeitskollegen los. Er hatte schon seit jeher Interesse an Übernatürlichem, darum war er sofort dabei, als ich es vorschlug. Zusammen besuchten wir einen Schrein. Zu meiner Freude fand ich dort wirklich einen »Ryūketsu«, man könnte auch »power spot« dazu sagen; übersetzt bedeutet es »Drachenloch«. Ein solcher Ort soll so mächtig sein, dass manche Menschen drei Tage lang Ohrensausen und andere Beschwerden bekommen. Bisher hatte ich noch nie etwas gespürt, aber dieses Mal nahm ich eine unbändige Energie wahr. Die Quelle dieser Macht lag zwischen zwei großen Bäumen und Steinlaternen.

Ich ging also direkt dorthin und las das Herz-Sutra, weil ich es unbedingt ausprobieren wollte. Doch es passierte genau nichts. Ich war enttäuscht, aber wir machten uns schließlich wieder auf den Weg nach Hause.

Im Auto beschlich mich allerdings ein ungutes Gefühl. Ich merkte, wie ich unruhig wurde und mich nicht konzentrieren konnte. Wir fuhren den Berg hinab vom Tempel und mit einem Mal gaben die Bremsen nach. Sie griffen einfach nicht mehr und ich fühlte nur wie ich nutzlos ins Leere trat. Mein Kumpel reagierte schnell und nutzte die Handbremse.

Wir rauschten weiter hinab, kamen an einem Schild vorbei, das zum nächsten Tempel, dem Hashiro-Tempel wies. Mir stellten sich alle Haare auf. Ich schaute panisch immer wieder in den Rückspiegel, weil ich mir sicher war, etwas verfolgte uns.

Vielleicht war es nur meine Angst, aber ich war mir sicher, dass es mehr war. Ein Wesen, das mich jagte, danach trachtete mich zu fangen oder auch meinen Körper zu übernehmen.

Mit quietschenden Reifen bogen wir in Richtung des Tempels ab und kamen dort zum Halten. Niemand war hier. Es handelte sich nur noch um eine alte Ruine, hinter der ein Friedhof lag. Hier würde sich nichts finden und kein Mensch war anwesend, der uns helfen konnte, also drehte ich auf dem schmalen Bergpfad um.

In dem Moment sah ich meinen Kumpel an. Er war angespannt, hatte die Augen weit aufgerissen und zitterte am ganzen Körper. Etwas war hier und es war nicht gut, also beeilte ich mich von dem Gelände wieder wegzukommen und tatsächlich ließ das Gefühl nach, als wir das Torii passierten.

Mein Freund war völlig fertig, so dass ich ihn direkt nach Hause brachte und mich danach selbst in Richtung meines Heims aufmachte. Vergessen konnte ich die Geschehnisse jedoch nicht, darum rief ich ihn an. Er nahm nicht ab.

Ich versuchte es mehrmals, aber erst zwei Tage später erreichte ich ihn und bereits nach kurzem Gespräch fing er an zu weinen. Völlig aufgelöst erzählte er mir, dass er aus lauter Angst die letzten Tage damit verbracht hatte, durch die Straßen zu irren. Dazu sei gesagt, dass er alleine lebte, und er hatte es einfach nicht geschafft in der Wohnung zu bleiben. Als ich wissen wollte, warum er nicht abgenommen habe, antwortete er etwas, was mir einen Schauer über den Rücken jagte: »Weil es sagte, ich solle nicht ans Telefon gehen.«

Ich bekam selbst Panik, während mein Freund weinend am Hörer zusammenbrach. Was sollte ich nur tun? Mit so etwas hatte ich noch nie zu tun gehabt und ich war nur ein kleiner Novize, mitten in der Ausbildung. Meinem Meister konnte ich das unmöglich beichten, immerhin hatte ich gegen sein Verbot gehandelt.

»Er ist hier bei mir«, raunte mein Kollege plötzlich ins Telefon.

In einem Anflug puren Wahnsinns sagte ich: »Dann lass mich mit ihm sprechen.«

Die Stimme meines Freundes wurde schlagartig ruhig und ich glaubte sogar, sie wäre eine Nuance tiefer als normal.

»Wieso bist du das Heiligtum zerstören gekommen?«

Da wusste ich, es handelte sich um die Gottheit des Schreins. Mir fiel nichts anderes ein, als um Verzeihung zu bitten und zu beteuern, dass dies niemals meine Absicht gewesen war. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, und trug das Kannon-Sutra vor, fügte am Ende weitere Entschuldigungen hinzu.

Und es verschwand. Mir kam es vor, als hätte ich die letzten Tage einen schweren Rucksack mit Steinen gefüllt getragen. Doch jetzt verflüchtigte sich das Gefühl und ich konnte endlich wieder frei aufatmen.

Ich sprach mit meinem Kumpel, der jedoch vollkommen verdutzt klang und nicht mehr wusste, was für ein Telefonat wir geführt hatten. Aber eines ist sicher, niemals werde ich je wieder ein Sutra einfach so irgendwo vortragen.

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Nachwort von Ellen

An dieser Geschichte sieht man wunderschön, welche Schwierigkeiten in anderen Glaubensrichtungen auftreten können, und zu welchen »Berichten« sie führen. Ob Aberglaube oder nicht, ist die Entstehung eben dieser Erzählungen allein einen Blick wert.

Auffällig finde ich auch die Art der Geschichte. Japanische Gruselgeschichten arbeiten deutlich mehr mit einem »Horror«, der undefinierter und weniger zu greifen, aber nicht weniger spürbar ist. Anders als viele beispielsweise amerikanische Horrorgeschichten, in denen es häufig sehr blutig zugeht und um Mörder oder mordende, übernatürliche Wesen geht. Dazu gehören »Bloody Mary«, »Der Hakenmörder« – alles Gruselgeschichten für die typische Lagerfeueratmosphäre und dabei oftmals mit einem Killer verknüpft oder einer Art Mutprobe, die laut Erzählung immer blutig enden wird.

Natürlich findet sich ähnliches genauso im asiatischen Bereich, jedoch eben auch viel mehr von diesem anderen, häufiger eher psychologischen und körperlosen Horror. Nicht selten beruht es auf Yokais und Gottheiten – Letztere können hierbei in »guter« und »böser« Ausführung einwirken.

Für mich ist das eine Art des Horrors, die deutlich feiner wirkt und einem ungreifbar wie Sand durch die Finger rinnt, jedoch in kleinen Partikeln unbemerkt an einem haften bleibt.

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