Der Wildhund Hayataro

Die Shōwa-Ära beschreibt die kurze Amtszeit des Hanazono-Kaisers und dauerte von 1312 bis 1317 an. In dieser Zeit spielt die Geschichte des Wildhundes Hayatarō.

Es war an einem Tag im Spätsommer, als ein Reisender in Miyata in Kamiina vorbeikam. Unruhig schaute er sich stetig um, schien nicht zu wissen, wohin er sich wenden wollte, und entdeckte schließlich ein Teehaus am Wegesrand, das er prompt betrat.

Die alte Eigentümerin begrüßte ihn freundlich, und wenn er auch nicht unfreundlich wurde, so merkte sie ihm die Unruhe an.

»Gute Frau«, begann er, »lebt hier in der Gegend jemand namens Hayatarō?«

Die alte Dame blinzelte und dachte nach, doch konnte sie sich beim besten Willen nicht an einen Mann mit diesem Namen erinnern. Sie verneinte und goss dem Gast Tee ein, während dieser in sich zusammensackte. Erschöpft saß er da, nippte immer wieder an dem heißen Getränk und starrte auf die Berglandschaft von Komagatake.

Sorgenfalten zierten sein Gesicht und die Brauen verrieten die anhaltende Spannung, die in ihm wütete. Nicht weit entfernt, am anderen Ende der Bank, saß ein Bauer, der das ganze beobachtet hatte. Nachdenklich rieb er sich das Kinn und murmelte vor sich hin: »Im Kōzenji-Tempel lebt ein Hund, der Hayatarō genannt wird, aber das wird wohl nicht viel helfen.«

»Ein Hund?« Der Reisende setzte sich plötzlich auf. »Ein Hund namens Hayatarō?«, fragte er aufgeregt nach. Mit einem Mal hatte sich seine Trübsal zu einer verzweifelten Hoffnung gewandelt und er lehnte sich dem Bauer entgegen. »Kannst du mir mehr von diesem Hund erzählen, guter Mann?«

»Nun«, begann der Ältere, rieb sich die stoppeligen Wangen und erzählte eine Geschichte, die sich hier unlängst zugetragen hatte:

Nicht weit entfernt gab es den Tempel Kōzenji. Ein Priester leitete ihn, der überall bekannt für seine Herzensgüte war. So konnte dieser Mann auch nicht anders, als eine Wildhündin aus Komagatake, die unter dem Haus ihre Jungen zur Welt gebracht hatte, zu füttern. Er hatte der Hundebande sogar ab und an Sekihan zubereitet. Hündin und Welpen wurden von dem guten Priester stets umsorgt und er hatte sich in die sehr niedlichen Hunde regelrecht verguckt. Wildhunden sagte man nach, dass sie den Menschen verstehen konnten, und so fragte der Priester die Hundemutter, ob er eines ihrer Jungen behalten dürfte.

Als die Welpen herangewachsen waren, zog die Mutter mit ihnen wieder in die Berge. Doch eines ließ sie zurück. Dieser Abkömmling blieb bei dem Priester und somit im Tempel. Er wurde noch größer und stärker und bekam den Namen Hayatarō.

Seine Kraft sollte ausreichen, dass er ein Wildschwein totbeißen konnte. Aber er war keineswegs aggressiv. Im Gegenteil wurde er zu einem klugen und ruhigen Hund.

»Bis heute wohnt er dort. Der Priester ist gut zu ihm und liebt ihn sehr«, beendete der Bauer seine Erzählung.

»Ja, das muss er sein. Dieser Hund muss gemeint sein!«, rief der Reisende aus und schlug die Hände auf die Knie.

Bevor die alte Teehausdame oder der Bauer nachfragen konnten, war er bereits aufgesprungen und hatte sich aufgemacht zum Tempel Kōzenji. Dort suchte er direkt den vorstehenden Priester auf und stellte sich vor.

»Ich bin Diener aus dem Schrein Shintō-Schrein;’>Tenman-gū in Fuchū im Lande Tōtōmi«, begann er. »Und ich habe eine Bitte an Euch, werter Tempelvorsteher.«

»Nun, was könnte ein Shinto-Priester aus Tenman-gū von mir wollen?«, fragte der Vorsteher zurück.

Der Reisende kniete nieder, stemmte die Hände auf den Boden und senkte demütig das Haupt. »In diesem Tempel soll ein Hund namens Hayatarō leben. Ich bitte Euch, leiht ihn mir für eine Weile.«

Verwirrt hakte der Buddhist nach und so erzählte der Besucher seine Geschichte:

Im Schrein von Tenman-gū pflegte man noch einen schrecklichen altertümlichen Brauch. Woher er kam, wusste niemand mehr genau, doch jedes Jahr wurde ein junges Mädchen ausgelost, das als Opfer dargebracht wurde. Geschah dies nicht, wurden die Felder zerstört und kleine Kinder entführt. Es fand immer im Herbst statt und alle Familien, die Töchter hatten, bangten um ihren Nachwuchs. Auch im letzten Jahr hatte das Los das Leben eines Mädchens gefordert. In einem großen Tonkrug hatte man sie zum Schrein gebracht und die Dorfleute beteten im Feuerschein für eine gute Ernte, und dass das Dorf von Krankheit und Katastrophen verschont blieb.

Der Shinto-Priester ertrug es nicht, Jahr um Jahr ein Mädchen zu opfern. Welcher Gott würde so etwas fordern? Und so entschied er sich, genau dies herauszufinden.

Als alle den Platz verlassen hatten und der Tonkrug einsam dastand, hatte sich der Priester im Wipfel eines großen Baumes versteckt. Dort verharrte er bis in die tiefste Nacht. Die Wache verlangte ihm alles ab. Die Feuer spendeten nur unheilvolles Licht und erst um ungefähr zwei Uhr regte sich etwas. Wobei er es zuerst roch. Ein fauliger Geruch kroch heran über den Schreinplatz und die Tür des Tenman-gū-Schreins öffnete sich mit einem bedrohlichen Knarren.

Drei Schatten stiegen heraus. Sie waren riesig und ihre Augen leuchteten rot wie die Glut. Im wenigen Licht war nicht genau auszumachen, wie sie im Detail aussahen, zudem hüpften sie wild herum und tanzten um den Opferkrug. Sie schüttelten ihre Mähnen und bewegten hektisch ihre Glieder.

Plötzlich blieb der Größte von ihnen stehen.

»Wird Hayatarō aus dem Lande Shinano heute Nacht auch wirklich nicht kommen?«

Die anderen beiden hielten ebenfalls auf einmal still und senkten die Köpfe.

»Nein, er wird nicht kommen«, sangen sie im Chor.

Dann sprangen sie schlagartig auf den Krug zu und zerschmetterten ihn. Das Mädchen darin hatte keine Chance, als die wilden Bestien sie schnappten und in den Schrein zerrten. Ihre Schreie verhallten, als die Tür zufiel und Stille hüllte den Platz ein.

Doch der Priester blieb in seinem Versteck und wagte nicht auch nur einen Muskel zu rühren, ehe die Sonne ihre Strahlen über das Land sandte. Erst dann kletterte er herab und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Zuhause, fest entschlossen, dass er losziehen musste, um unbedingt diesen Hayatarō aus Shinano zu finden. Diese Monster hatten sicher nicht ohne Grund vor ihm Angst. Schleunigst packte er, während die grausame Szene der Nacht seine Gedanken nicht mehr losließ, und macht sich auf die Reise.

Shinshū war jedoch ein weites Land. Sein Weg führte ihn über Berge und Flüsse, hinab in tiefe Täler und auf hohe Berge. Wohin er auch kam, fragte er nach Hayatarō, doch als würde er nach Wolken greifen, bekam er nichts zu fassen. Ohne Hinweis schwand die Hoffnung von Tag zu Tag. So schritt das Jahr voran – dem Frühling war der Sommer gefolgt und immer noch blieb der Priester auf der Suche.

»Doch dann hörte ich im Ort Miyata schließlich von Eurem Hund Hayatarō«, sagte er und schaute hoffnungsvoll zum Tempelvorsteher auf. »Er muss es sein, den die Monster fürchten. Darum bitte ich Euch, leiht mir euren Hund für eine Weile. Denn schon bald steht das nächste Opferfest an und wird ein weiteres unschuldiges Kind fordern.«

Einige Augenblicke beobachtete der Priester den Reisenden. Immer wieder senkte dieser das Haupt und Tränen rannen ihm endlos über die Wangen. Der Shintoist hatte wirklich viel auf sich genommen und seine Suche hatte ihn deutlich gezeichnet. Schließlich stand der Buddhist auf und ging nach draußen, rief seinen treuen Freund im Garten herbei und fragte den Hund, als würde er mit einem Menschen sprechen: »Mein Guter, willst du mit ihm gehen?«

Hayatarō sah aus großen dunklen Augen zu dem alten Priester auf. Die Ohren entspannt wedelte er mit dem Schwanz, als wäre seine Antwort ein beherztes: »Ja, ich will helfen.«

So kehrte der Priester zu dem Reisenden zurück.

»Hayatarō sagt, dass er mitgehen möchte. Doch ob er wirklich helfen kann oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. So nehmt ihn mit Euch.«

Erstmals leuchtete im Herzen des Shinto-Priesters wieder Hoffnung auf. Mit einem Wasserfall an Dankesworten nahm er den Hund und machte sich auf nach Tōtōmi zurück.

Da das Fest in wenigen Tagen schon anstand, gönnte sich der Priester nur kleine Pausen. Selbst in den Nächten marschierte er weiter, um rechtzeitig zurückzugelangen. Er schaffte es, das Dorf am Morgen der Herbstfeier zu erreichen.

Das Los hatte bereits ein Mädchen gewählt und die Familie weinte um ihr Schicksal.

»Gerade noch rechtzeitig«, keuchte der Priester und wäre am liebsten vor Erschöpfung umgekippt. Doch war seine Aufgabe nicht beendet. Er suchte sofort die Familie auf und erklärte ihnen, was er vor einem Jahr beobachtet hatte. Dann stellte er den treuen Hayatarō vor, der neben ihm saß und ihm ruhig ins Gesicht schaute.

Am Abend machten sie sich daran den Tonkrug zum Schrein zu tragen. Dieses Mal saß jedoch Hayatarō darin und nicht das Mädchen, das sich stattdessen zu Hause versteckt hielt. Alles vorbereitet taten es die Dorfbewohner dem Priester gleich und verbargen sich in den dichten Baumkronen.

Die Nacht schritt still voran, während die Nerven der Leute zum Zerreißen gespannt waren. Dann, als die Geisterstunde anbrach, wehte wieder dieser faulige Geruch heran und mit unheimlichem Ächzen öffnete sich die Tür zum Schrein. Auch dieses Mal stoben die wilden Bestien heraus, schüttelten sich und tanzten ekstatisch im Kreis, bis der Größte plötzlich still stand.

»Wird Hayatarō aus dem Lande Shinano heute Nacht auch wirklich nicht kommen?«, rief er in die Dunkelheit hinaus.

Die beiden Begleiter steckten die Köpfe zusammen und antworteten wie damals vor einem Jahr: »Nein, er wird nicht kommen.«

Schrill brandeten ihre Freudenschreie auf und sie stürzten sich auf den Krug. Doch aus dem zerberstenden Gefäß sprang Hayatarō hervor und griff die Bestien an. Ein blutiger Kampf entbrannte und unmenschliche Schreie jagten durch die Nacht, begleitet von Knurren und Fauchen.

Die Dorfbewohner kauerten sich auf den Bäumen zusammen und schickten Stoßgebete zu den Göttern. Dann brach das Geheule ab und gespenstische Stille nahm den Platz ein.

Am Horizont kroch die Sonne hervor und erhellte, was die Nacht verborgen hatte.

Auf dem Schreingelände lagen die toten Überreste drei riesiger, alter Paviane. Graues Fell erschien im Tageslicht wie ein Wald aus Silbernadeln, aus denen dicke Pranken wuchsen, bewehrt mit Klauen wie aus Stahl. Rund um ihre, bis zu den Ohren aufgerissenen, Mäuler klebte das getrocknete Blut ihrer vergangenen Opfer.

»Das sind die Monster, die unsere Töchter gefressen haben?«, heulten einige im Dorf auf und viele brachen weinend in die Knie. »Diese Bestien haben wir zu Göttern erhoben? Haben zu ihnen gebetet?«

Die Schande rollte über die Bewohner hinweg wie eine grausame Flutwelle. Der Priester, von dem ganzen Leid überwältigt, suchte jedoch nach dem Hund.

»Hayatarō ist nicht hier? Hat ihn jemand gesehen?«, rief er in die Menge. »Ihr alle, helft mir bitte ihn zu finden!«

Einige Dorfleute erhoben sich. Sie suchten und suchten, doch der tapfere Wildhund war nicht zu finden. Nur eine dünne Blutspur entdeckte man, die geradewegs nach Kōzenji führte.

Der treue Hayatarō hatte sich verletzt und schwach mit letzter Kraft zu seinem Heimattempel zurückgeschleppt. Als er den Tempelvorsteher sah, der ihm entgegeneilte, heulte er auf und verstarb in dessen Armen.

Nachwort von Ellen

Bei meinen Nachforschungen, warum es hier ausgerechnet Affen sind, stieß ich auf ein Wesen namens »Sarugami«. Es ist nicht gesichert, dass es sich in dem Märchen genau darum handelt, jedoch fielen mir einige Ähnlichkeiten auf.

Sarugami entstammten, so sagt man, alten Kulten und Verehrungen von Affengöttern. Affen wurden in vielerlei Hinsicht verehrt, wie beispielsweise als Diener der Sonne, sehr beliebt unter Bauern, die mit der Sonne anfangen und bis Sonnenuntergang arbeiten. Später sah man in ihnen noch Diener der Berggötter und eine der bekanntesten Affenverehrungen findet sich auch in den drei weisen Affen »mizaru, kikazaru, iwazaru« – sehe nichts Böses, höre nichts Böses, sage nichts Böses.

Läuft eine Anbetung aus, so degenerieren die Gottheiten und »fallen«. Was dann übrig bleibt, sind oft bösartige Abbilder der einstig göttlichen Präsenzen, die immer wilder werden. Sarugami sind Nachkommen dieser »Gefallenen« und eine Begegnung mit ihnen geht selten gut aus. Man sagt, dass sie Frauen entführen, die dann aus ihren Fängen gerettet werden müssen.

All diese Punkte brachten mich darauf, dass es sich hierbei um Sarugami handeln könnte und der Brauch auf einen alten Kult, wie auch im Märchen gesagt wird, zurückgeht. So könnte dieser über die Jahre ebenfalls entartet sein, was zu der schrecklichen Opferung führt.

Allerdings ist das meine Interpretation, doch es ist erstaunlich wie gut das Märchen und die Legende über Sarugami zusammenpassen.

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