Schreine ohne Torii

Schreine: heilige Orte, von Segen erfüllt und von Göttern bewohnt. Ein Torii schützt hierbei die Grenzen und markiert die Schwelle von der menschlichen Welt zur göttlichen. Doch manchmal verwittert das Tor, es wird zerstört oder verschwindet …

Zwei Mädchen zogen gern zusammen los und statteten Schreinen Besuche ab. Es war ein gemeinsames Hobby und sie hatten schon viele besucht. So gelangten sie auch dieses Mal an einem Kleinen, etwas Abgelegeneren an. Fast hätten sie den von Wald umgebenen Ort übersehen, denn zudem fehlte das Torii, das sonst so stattlich den Eingang bewachte.

Sie betraten das Schreingelände und schauten sich um. Scheinbar war er verlassen und entsprechend heruntergekommen. Selbst das Wasser, mit dem man sich die Hände normalerweise wusch, war abgestanden und dreckig. Trotzdem knieten sie sich zum Beten nieder, wie es sich gehörte.

Dabei entdeckten sie eine Treppe, die weiter hoch auf den Berg führte. Die beiden Mädchen entschlossen sich nach kurzem ihr zu folgen und stiegen die Stufen hinauf.

Ein fremdes Mädchen tauchte auf. Sie war deutlich jünger, begleitete die zwei jedoch ein gutes Stück. Dann schlug es vor zusammen zu spielen.

Den beiden Freundin wurde allmählich mulmig. Außerdem war es schon spät und sie entschieden lieber sich auf den Heimweg zu machen.

»Ich bleibe hinter euch«, sagte da das kleine Mädchen. »Aber wenn ihr euch zu mir umdreht, spielt ihr mit mir. Schafft ihr es bis nach unten, ohne euch umzuschauen, lasse ich euch gehen.«

Den Besucherinnen wurde noch unbehaglicher, aber sie hatten keine Wahl und stiegen gemeinsam wieder die Stufen nach unten, klammerten sich dabei ängstlich an den Händen.

Hinter ihnen schrie das Mädchen plötzlich auf, dass sich ihnen die Haare im Nacken sträubten.

»Nicht zurück schauen«, zwangen sie sich in Gedanken und liefen weiter.

»Dreht euch doch mal um«, drang eine tiefe und dunkle, männliche Stimme zu ihnen.

Immer noch fest einander an der Hand lauschten sie kurz und bemerkten, dass keine Schritte hinter ihnen zu hören waren, obwohl das Mädchen doch gesagt hatte, ihnen nachzulaufen. Von Minute zu Minute wurde es unheimlicher, also beschleunigten sie so sehr, dass eine von ihnen stürzte. Ein Bluterguss erschien auf ihrem Bein in Form einer Kinderhand.

Die Mädchen erschraken und hinter ihnen drang die Stimme der Mutter von einer der beiden zu ihnen – besorgt, als wollte sie helfen.

Doch es war nicht möglich, dass sich die Mutter hier befand, und das unverletzte Mädchen zog ihre Freundin auf die Beine und hielt sie ab, sich umzudrehen.

Es wurde schlimmer, je weiter sie kamen. Von überall erklang Gelächter von Kindern und zwischen all den Geräuschen fragte eine weitere Kinderstimme: »Alles in Ordnung? Da scheint euch etwas gefährliches zu mögen!«

Aus dem umliegenden Wald hörten sie auch noch ein Grollen, wie von einem gewaltigen Bären, das immer näher kam. Ängstlich quietschten die beiden auf und flogen die letzten Meter regelrecht hinab. Hinter ihnen rief eine Stimme, die sich wie eines der beiden Mädchen anhörte. Fast hätte sich da das andere umgedreht, doch gerade noch konnte sie aufgehalten werden und die zwei setzten ihre Flucht eilig fort. In wilder Panik erreichten sie das Ende der Stufen und verloren vor Erschöpfung das Bewusstsein. Das Letzte, was sie sahen, war eine riesige, düstere Gestalt, die auf der Treppe stand.

»Wie langweilig …«, hallte eine Stimme zu ihnen, ehe sie ohnmächtig wurden.

Die Polizei fand die Mädchen später am Eingang zum Schreingelände. Da die zwei nicht nach Hause gekommen waren, hatten die Eltern sie als vermisst gemeldet.

Der Schrein war schon lange nicht mehr besucht und gepflegt worden. In der Gegend hatten sich bereits viele Gerüchte verbreitet über Unfälle und seltsames Verschwinden von Leuten. Die Mädchen waren froh, den Schrecken des Geländes entgangen zu sein.

Ein Torii stellt nämlich nicht nur ein Tor dar, sondern auch eine Barriere, die böse Geister von einem Ort fernhält. Zerfällt es, erlangen sie Zutritt und werden zu Tatarigami (Fluchgöttern).

Betrete also nie so einen Schrein ohne Torii – im Bestfall erleidest du nur einige seltsame Missgeschicke … doch im schlimmsten verschwindest du, und wohin auch immer dich das Wesen entführt, du wirst nicht zurückkehren …

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Nachwort von Ellen

Wie man sieht, sind Torii ein sehr wichtiger Bestandteil von Schreinen. Allerdings nicht nur dort, sondern generell werden sie in ganz Japan verwendet. Kein Wunder sind sie so weithin über das Land der aufgehenden Sonne hinaus bekannt, was ebenfalls ihrem einprägsamen Design geschuldet sein kann.

Doch ich möchte noch mal auf die sogenannten »Tatarigami« eingehen, also Fluchgötter oder Fluchgeister.
Götter besitzen dem Glauben nach zwei Seelen, zum einen die Aramitama oder Aratama, zum anderen Nikitama oder Nigimitama. Tatarigami sagt man nach sie seien Aramitama und aus diesem Grund bringt man ihnen viel Ehrfurcht entgegen.

Wenn der Glaube stark genug ist und die Verehrung entsprechend aufwändig und innig gestaltet, so heißt es, dass sie dann zu starken Schutzgottheiten werden. Hierbei spielt rein, dass der Segen oder Fluch der Götter von dem Glauben der Menschen abhängt.
Bis heute findet so in Tokyo und früher in Heiankyo (alte Hauptstadt Japans von 794 – 1869) im Sommer das Fest Gionmatsuri statt. Hier wird die wilde Gottheit Gozutenou, oder auch Susano, geehrt. Als Fluchgott ist er dafür bekannt Krankheiten zu bringen, doch zugleich zählt er als sehr mächtiger Schutzgott, sofern man ihn genug verehrt.

Allerdings kann auch ein Mensch zu einem Tatarigami werden, wenn dieser eines unnatürlichen Todes und in tiefem Groll stirbt. Hier kennt man in Japan meistens die »Nihon Sandai Onryo«, das sind die drei gefürchteten Geister Japans. Es handelt sich dabei um einflussreiche Persönlichkeiten wie Kaiser und Feldherrn.

Aufgrund der weiten Verbreitung des Glaubens an Tatarigami fing man im ganzen Land an, ihnen Schreine zu widmen, um den Fluch etwas zu mildern oder aufzulösen. Das Problem hierbei ist natürlich, dass das Unglück wieder zuschlägt, wenn den Schreinen und ihren Gottheiten keine Verehrung mehr zuteil wird.

Also wenn ihr einmal aus Versehen einen Schrein ohne Torii erwischt, achtet darauf nicht die Aufmerksamkeit eines alten Fluchgottes auf euch zu ziehen. Vielleicht bekommt ihr ihn sonst nie wieder los.

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