Kintaro

Vor etwas mehr als tausend Jahren lebte, verborgen in den Ashigara-Bergen in der damaligen Provinz Sagami, eine Yamauba und ihr kleiner Sohn, Kintarō.

Nun muss man wissen, eine Yamauba ist eine Hexe, die in den Tiefen der Berge haust, und weil das Leben dort nicht einfach ist, sind diese Hexen übermenschlich stark. So war es denn auch mit Kintarō. Schon als Säugling spielte er mit Steinen, die größer waren als sein Kopf, und er war gerade mal ein Jahr alt, da konnte er laufen so schnell wie der Wind.

Als seine Mutter einmal im Haus arbeitete, lief er nach draußen und sprang auf einem großen Felsen auf und ab, bis dieser nachgab und in zwei Teile brach.

»Was für ein schlapper Stein«, lachte Kintarō und machte sich auf die Suche nach einem neuen. Er fand einen Felsbrocken, größer als die Hütte, in der sie lebten, und gab ihm einen kräftigen Tritt. Unter lautem Knacken und Brechen rollte der Stein den Steilhang hinab, prallte auf einen Vorsprung ab und stürzte von dort in die Tiefe. Als er durch die Baumwipfel brach, scheuchte das Donnern die Vögel und auch die Yamauba auf, die gleich angelaufen kam und schimpfte: »Kintarō, was denkst du dir! Was wenn Menschen und Tiere drunter standen, was tust du dann?«

Kintarō erschrak, denn er hatte keinem ein Leid antun wollen. Besorgt lauschte er mit seiner Mutter ins Tal, doch der Berg Ashigara lag still unter der goldenen Sommersonne. Die Vögelchen hatten sich schon wieder beruhigt und zwitscherten zum Rauschen der Blätter im Wind.

»Das ist wohl noch einmal gut gegangen«, seufzte die Berghexe erleichtert. Kintarō sprang freudig in die Luft.

»Ja, so ein Glück! Mit Steinen will ich nicht mehr spielen, ich gehe mit den Tieren sumōringen!«

»Sumō klingt gut, ja das geh mal spielen«, lachte seine Mutter und ging zurück ins Haus. Das rhythmische Klacken und Rattern des Webstuhls klang durch die klare Bergluft, und um das Häuschen der Hexe kehrte wieder Ruhe ein.

Kintarō versammelte unterdessen die Waldtiere auf einer Lichtung, denn sie alle wollten sumoringen. Da waren Bär und Hirsch, Affe und Marderhund, Fuchs und Hase, und sogar die kleinsten Tiere wie Eichhörnchen und Feldmaus.

»Wir üben erst das Shiko!« rief Kintarō, und wie er aufstampfte wie ein richtiger Sumō-Ringer, so taten die Tiere es ihm nach. Als es dann aber ans Ringen ging, wussten die Tiere die Regeln nicht recht und fingen an sich zu streiten. Der Hirsch stieß zu mit seinem kräftigen Geweih, der Affe kratze und kreischte, der Hase biss und zog seinem Gegner am Ohr. Kintarō lachte ob des heillosen Durcheinanders, und brachte die Tiere wieder auseinander.

»Bär und ich zeigen euch erst, wie es geht.«

Der kleine Junge und der große Bär traten einander gegenüber, stampften auf, dass die Blätter von den Bäumen fielen, und prallten aufeinander. Der Ringkampf ging vor und zurück, die Waldtiere jubelten und feuerten die Kontrahenten an, ja der ganze Wald war in hellem Aufruhr. Nur das Wildschwein hatte alles verschlafen. Aufgeschreckt vom Lärm rannte es plötzlich los und stieß, Nase voran, ausgerechnet zwischen die beiden Kämpfer.

»Huch!« rief Kintarō erschrocken und packte blind nach dem Ding, das ihm da in die Seite stach. Knack, da brach sie ab, die lange Nase. »Oh nein, das tut mir leid Schwein!« Sofort wurde der Kampf beendet und versucht, dem weinenden Schwein die Nase wieder anzukleben. Doch was ein mal abgebrochen ist, wird nicht so einfach wieder eins. So oder so ähnlich soll das Wildschwein zu seiner kurzen stumpfen Schnauze gekommen sein.

Die unbändige Muskelkraft des kleinen Kintarō brachte, so wie hier, wohl auch mal Schwierigkeiten, doch alles in allem lebten er und die Tiere in tiefer Freundschaft. Wie Kintarō ihnen Menschenspiele erklärte, verrieten die Tiere Kintarō, was es über den Wald zu wissen gab. Sie zeigten ihm, wo Akebia und Yamswurzeln wuchsen, wo viele Pilze zu finden waren und wo die Aralie ihre essbaren Knospen austrat. Der Tanuki behauptete, dass der Blütenstängel der Pestwurz betrunken mache, der Hirsch korrigierte, dass einem davon nur das Geweih abfalle.Vom Eichhörnchen kam die Weisheit, Walnüsse und Eicheln unter der Erde zu lagern, und wie man Seggen in Felsspalten stapelte, um daraus ein warmes Nachtlager zu bauen, war das stolze Wissen des Wildschweins. Die Spezialität des Affen war der Affenwein, den er aus Akebia-Früchten, wilden Trauben oder Kaki herstellte. So wurde Kintarō nicht nur stärker, sondern auch klüger mit jedem Tag.

Eines Frühlings beschloss Kintarō ins Tal zu gehen. Durch die dichten, rot blühenden Azaleenbüsche hindurch wanderte er den ganzen Morgen, dann gelangte er schließlich zu einem Dorf, wo Kinder die Felder bewachten.

»Hey Dorfkinder, lasst uns spielen! Kommt mit in die Berge!«, rief Kintarō, doch diese schüttelten nur die Köpfe.

»Wir müssen aufpassen, sonst kommen die Krähen und picken die Felder leer!«, antworteten sie. Als Kintarō nicht verstand warum, erklärten sie ihm was dort auf dem Feld alles wachsen würde. Der Sohn der Berghexe staunte nicht schlecht, was die Kinder alles wussten, und wieder daheim beschloss er, dass er selber ein Feld anlegen würde.

Gleich am nächsten Tag machte er sich ans Werk. Das Beil in der Hand schlug Kintarō die Bäume ab, und der Bär riss die Wurzeln aus. Das Wildschwein grub die Erde um, und der Affe säte Hirse und Schwarzwurzeln aus. Alle gemeinsam holten sie Wasser vom nahen Bach, wachten und spielten nach der Arbeit, bis die Sonne unterging, und schliefen zusammengeknäuelt unter dem Vordach der einfachen Hütte. Als der Sommer sich dem Ende neigte, neigten auch die buschigen Hirsepflanzen ihre schweren Köpfe. Kintarō holte eine reiche Ernte ein, machte Klöße aus der Hirse und gab sie seiner Mutter zu essen.

»Da dachte ich, du spielst draußen nur, und dabei hast du so viel gelernt und ein Feld bestellt. Ich bin so stolz auf dich«, freute sich die Yamauba. Durch die Hilfe ihres Sohnes wurde auch ihr Leben immer einfacher, und so zogen die Jahre ins Land. Kintarō wuchs zu einem kräftigen Jüngling heran, und die Gerüchte über die wohlwollende Yamauba und ihr Kind wurden durch das Land getragen, bis es sogar in der Kaiserstadt ein Gesprächsthema war.

Nun begab es sich eines Tages, dass ein Samurai namens Minamoto no Yorimitsu auf der Reise zur Kazuki-Provinz am Ashigara-Berg vorbeiritt.

»Ist das nicht dieser Berg, wo dieser unmenschlich starke Kintarō leben soll?«, überlegte er. »Nun bin ich schon hier, da will ich sehen, was an den Gerüchten dran ist.« Er ließ seine Reisebegleiter im Dorf zurück und wanderte hinauf, einem unscheinbaren Trampelpfad nach, bis er an eine Klippe stieß. Er schaute gerade aus einem Dickicht hervor, da hörte er ein fröhliches Schnattern und Quieken, ein Keckern und Bellen. Auf der anderen Seite der Schlucht teilte sich das Unterholz, und hervor kam eine bunte Schar von Waldtieren, die unter normalen Umständen nicht miteinander auskämen. Allen voran ritt ein Jüngling auf einem großen Schwarzbären, über die Schulter eine Axt gelegt, die so so groß war wie Yorimitsu selbst. Das muss der berühmte Kintarō sein, dachte der Samurai und beobachtete aus seinem Versteck, wie die Tiere zu streiten schienen, wie sie wohl über die Schlucht gelängen.

Während Hirsch und Hase stritten, stieg Kintarō vom Bären ab und schaute sich um. Er fand einen alten Baum, der ihm gerade richtig erschien, ging hinüber und stemmte die Hände gegen den dicken Stamm. Yorimitsu auf der andere Seite verfolgte mit offenem Mund, wie der noch halbwüchsige Jüngling den Baum mit bloßen Händen entwurzelte, als wäre es das normalste von der Welt. Krachend und knackend kippte der blätterreiche Wipfel über die Schlucht und verband nun beide Seiten miteinander. Kintarō wandte sich grinsend seinen Waldgefährten zu: »Da haben wir eine Brücke. Kommt, lasst uns weitergehen!«

Die Tiere, die das Spektakel genauso bestaunt hatten wie der Samurai, brachen in Jubel aus und begannen überschwänglich um Kintarō herumzuspringen. Selbst Yorimitsu konnte nicht ganz an sich halten und rief begeistert aus: »Gut gemacht, Kintarō!« Er applaudierte und wartete, bis der ungewöhnliche Tross auf seine Seite der Schlucht angekommen war. Dann trat er auf den zottigen jungen Mann zu.

»Die Gerüchte werden dir nicht gerecht, so eine Kraft habe ich noch nie gesehen. Und dein Herz ist so gut, dass sich selbst die scheuen Waldtiere um dich scharen. Kintarō, willst du nicht mein Gefolgsmann werden? Du sollst es nicht bereuen.«

Kintarō erhielt durch den Edelmann den neuen Namen Sakata no Kintoki und sollte von da an als einer seiner Shitennō dienen. Unter seinen vielen Errungenschaften sind vor allem seine Taten bekannt im Kampf gegen Shutendōji aus Ōeyama.

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Nachwort von Megumi

Kintarō ist eine Märchenfigur, die in Japan etwa so bekannt ist wie das tapfere Schneiderlein oder Schneewittchen. Entsprechend gibt es von seiner Geschichte viele Versionen, in denen aber immer sein aufrichtiges Gemüt und die übermenschliche Muskelkraft im Zentrum steht. Diese sind unter anderem der Grund, warum man zum Jungenfest am fünften Mai gerne eine Figur von ihm aufstellt, als Symbol für den Wunsch, dass man dem eigenen Sohn die gleichen Eigenschaften wünscht. Da und in den Märchen wird Kintarō immer als gutgenährtes, rotbackiges Kind dargestellt, nur bekleidet mit einem roten Tuch vor dem Bauch, auf dem das Zeichen Kin für Gold steht. Historische Zeichnungen zeigen ihn statt dessen häufiger nackt mit roter Haut. Ein Anime-Fakt, über den ich auch erst bei der Recherche gestolpert bin: Der Name des Protagonisten aus dem Anime »Gintama« ist Sakata Gintoki, wobei Gin Silber bedeutet, aber man kann schon noch gut erkennen, woher der Name entlehnt ist.

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