Am Stadtrand des kleinen Ortes Kawagoe, westlich von Tokyō, steht ein prächtiger Tempel namens Kita-in. Dort erzählt man sich eine Geschichte, die sich vor langer Zeit so zugetragen haben soll.
Es war eines nachts, in einer Zeit, wo die Wege noch unbeleuchtet waren, da klopfte es zu später Stunde an der Tür. Als der alte Tempelmeister öffnete, stand ihm gegenüber eine außergewöhnlich schöne, junge Frau.
»Guten Abend, ehrenwerter Priester«, verbeugte sich die Unbekannte. »Verzeiht die Störung um die späte Stunde, doch habe ich eine dringende Bitte Würdet Ihr mir wohl Gehör schenken?«
Verwundert, aber sanft antwortete der gutmütige Priester: »Woher kommst du, liebes Kind, und wie wichtig kann die Bitte sein, dass sie dich so spät hier her führt?«
»So merkwürdig es klingt, bitte ich Euch: Lasst die Tempelglocke von heute an einhundert Tage schweigen. Wenn Ihr mir diesen Wunsch erfüllt, soll sie nach dem Ablauf dieser Tage einhundert mal schöner und weiter klingen.«
»Die Glocke nicht zu läuten ist deine Bitte?« Der Alte hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Doch während er noch nachdachte, sank das Mädchen auf die Knie und verbeugte sich, dass ihr Haupt den Boden berührte.
»Ich bitte Euch inständig.« So ernst, wie ihr die Sache schien, wollte der gutmütige Mann sie nicht abweisen.
»Wenn es dir denn so wichtig ist, dann soll die Glocke von heute an für einhundert Tage schweigen«, sprach er milde und half der jungen Frau wieder auf die Füße.
»Danke, vielen Dank!« Sie bedankte sich mit leuchtenden Augen, verbeugte sich noch ein letztes Mal, drehte sich um und lief leichtfüßig in die Nacht hinaus. Nachdem er einen Moment nachgewunken hatte, kam dem alten Mann doch alles ein wenig merkwürdig vor. Da beschloss er ihr zu folgen, und trat beherzt in den Garten hinaus. In sicherem Abstand folgte er der jungen Frau, die sich behände über Stock und Stein bewegte, als würde die Schwärze der Nacht ihr nichts ausmachen und ihre Füße den Boden nicht berühren. So flink eilte sie voran, so dass er gerade einmal bis zum Graben am südlichen Ende des Tempelgeländes kam, bis er sie aus den Augen verlor.
»Was es mit der Bitte wohl auf sich hat?« Nachdenklich über seinen langen weißen Bart streichend kehrte er zurück zum Tempel und wies sogleich den jungen Mönch an. »Die Glocke sollst du heute nicht läuten.« Auch wenn er die Gründe nicht kannte, war er entschlossen sein Wort zu halten. So verstrichen zehn Tage ohne den Klang der Glocke, dann zwanzig, dann fünfzig, ohne dass etwas geschah. In der Nacht vor dem hundertsten Tag schließlich war es, da es wieder zur späten Stunde ans Tor klopfte.
»Guten Abend, ehrenwerter Priester«, verbeugte sich vor ihm eine unbekannte junge Frau. Wie das Mädchen vor neunundneunzig Tagen war sie ungewöhnlich schön, und sie sprach mit den gleichen Worten ihrer Vorgängerin. »Verzeiht die Störung um die späte Stunde, doch habe ich eine dringende Bitte Würdet Ihr mir wohl Gehör schenken?«
Verwundert, ein wenig neugierig aber ohne Argwohn antwortete der alte Priester freundlich: »Woher kommst du, liebes Kind, und wie wichtig kann die Bitte sein, dass sie dich so spät hier her führt?«
»So merkwürdig es klingt, bitte ich Euch: Lasst die Tempelglocke noch heute Nacht läuten.«
»Noch heute Nacht läuten soll ich sie?«, wunderte er sich und verschränkte nachdenklich die Arme. »Du musst wissen, ich habe zuvor jemandem zugesagt, sie für einhundert Tage nicht anzuschlagen. Kann es wohl nur noch einen Tag warten?«
Da wurde die junge Frau furchtbar traurig und sank flehend auf die Knie.
»Ich bitte Euch, werter Priester, und sei es nur ein einziger Schlag. Aber es muss noch heute Nacht sein.«
So ernst, wie es der Besucherin schien, wollte der Alte sie nicht grundlos davon schicken. Nach neunundneunzig Tagen ohne jegliche Zeichen von Veränderung, welchen Schaden könnte dieser eine Tag schon anrichten?
»Wenn es dir so ernst ist, dann soll es so sein«, sprach er und nickte langsam. Sogleich wies er einen Tempelbuben an, die Glocke zu läuten. Nur wenige Augenblicke später erfüllte der klare Klang zum ersten Mal seit über drei Monaten die Luft. Da plötzlich verwandelte sich die junge Frau vor den Augen des Tempelvorstehers in einen riesigen Drachen, den langen Leib bedeckt mit glänzenden Schuppen und die mächtige Mähne schwerelos in der leichten Brise. Ungeachtet des Priesters, der noch da stand mit offenem Mund, beschwor das Wesen die Winde und ritt auf ihnen in gewundenen Bahnen in den bewölkten Himmel hinauf.
Unterdessen holte der unwissende Tempelbursche zum zweiten Gong aus, doch als der Balken dieses Mal auf das Metall auftraf, ertönte nichts als ein stumpfer Laut. Hastig versuchte es der Knabe erneut, doch es war, als wäre die Glocke gefüllt mit unsichtbarem Sand: Kein Klang war ihr mehr zu entlocken. Nicht nur das: Urplötzlich gingen Blitz und Donner und Regen hernieder, die Winde heulten und rissen an den Dachschindeln. Verwirrt und verängstigt lief der Tempeljunge dort hin zurück, wo er den alten Oberpriester zurückgelassen hatte. Im Innengarten angekommen aber musste er feststellen, dass sein Lehrmeister von einem Wirbelwind erfasst worden war. Im Auge des Sturms wurde er herumgewirbelt wie ein Kreisel, und so sehr die Mönche und Tempelknaben auch versuchen ihn zu fassen, konnten sie nichts erreichen, bis der alte Tempelmeister sich genau neunundneunzig Mal um seine eigene Achse gedreht hatte. Der Wind legte sich und der Himmel klarte auf, als wäre nichts geschehen. Die versammelten Mönche brachten ihren bewusstlosen Meister auf sein Zimmer und wachten über ihn, bis er wieder zu sich kam.
Zurückgezogen in sein Schlafgemach schwieg der alte Priester gedankenverloren für viele Tage, ehe sich das Leben im Kita-Tempel wieder normalisierte. Viel später einmal soll er einem Tempelknaben erklärt haben: »Das erste Mädchen, das mich bat die Glocke nicht zu läuten, muss die Herrin des Tümpels im Süden gewesen sein. Anscheinend mag sie den Klang der Glocke nicht. Das andere, woher es auch gekommen sein mag, muss ein Drache gewesen sein, der die Glocke mag. Wie ich es auch drehe und wende – keine Antwort wäre richtig gewesen.«
So oder so ähnlich soll es sich einmal zugetragen haben, und bis heute läutet man im Kita-Tempel die Glocke nur ungern.
Nachwort von Megumi
Ich bin zwar mit Elementen des japanischen Buddhismus aufgewachsen, stelle aber immer wieder fest, wie viel ich dann doch nicht wusste. Dieses Mal habe ich mich mit dem Aufbau der Bonshō befasst, weil ich für die Illustration genauer wissen musste, wie sie eigentlich aufgebaut ist, und habe viel über ihre Bedeutung gelernt.
Ähnlich wie die Kirchenglocke wird in Japan die Glocke in buddhistischen Tempeln unter anderem zur Tageszeitanzeige geläutet. Üblich ist dabei, sie morgens um sechs achtzehn Mal, mittags zwölf Mal und abends um sechs wieder achtzehn Mal anzuschlagen. In Trainingstempeln wiederum kann sie auch morgens und abends jeweils einhundertundacht Mal geschlagen werden. Das wird bis heute nicht automatisiert sondern immer von einem zuständigen Mönch durchgeführt, denn abgesehen vom ehemals pragmatischen Grund, der Bevölkerung die Zeit anzukündigen, steht der Glockenklang symbolisch für „Buddhas Stimme“, die den Segen zu den Menschen bringen soll.
Im japanischen Wort Bonshō 梵鐘 für Tempelglocke steckt die Silbe bon (梵) – Brahman, der Schöpfer, die göttliche Kraft. Die Glocke selbst ist aufgeteilt in Sektionen mit symbolträchtigen Dekorationen: Viele tragen Inschriften aus Sutren, Darstellungen von himmlischen Wesen und Lotusblüten. Die Aufhängung wird Ryūzu genannt, der Drachenkopf – und ist immer in Form von zwei entgegengesetzten Drachenköpfen gestaltet. Da es viele Märchen gibt, in denen die Glocke eine Rolle spielt, werden wir ihr auf unserer Reise sicherlich noch einige Male begegnen.
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