Die Sage von Hitsujidayū

»Wo die Blumen zu allen Jahreszeiten duften« – so steht es in Liedern über die schöne Stadt Nara zu seiner Blütezeit, etwa 700 Jahre n. Chr. Noch heute ist sie die Hauptstadt der gleichnamigen Präfektur, nicht weit entfernt von Ōsaka und Kyōto.

Zu jener Zeit befand sich in Nara der Kaiserhof, und dort genoss ein gewisser Edelmann große Aufmerksamkeit. Man nannte ihn den Hitsujidayū. Er verwaltete ein weitläufiges Gebiet in der Provinz Kōzuke (heutige Gunma-Präfektur), befehligte eine Hundertschaft an Soldaten und Dienern, und seine Schatzkammern waren bis zum Überlaufen gefüllt mit allerlei Kostbarkeiten. Ihm zur Seite standen seine wunderschöne Frau und seine ebenso lieblichen sieben Töchter, die seine Brust mit Stolz und seine Tage mit Liebe erfüllten. Als die älteste unter ihnen siebzehn und die jüngste gerade elf war, ließ er jedem Kind eine goldene Sänfte bauen, die bei Tag mit der Sonne um die Wette strahlten.

Für all das war Hitsujidayū bekannt, und für ein weiteres Phänomen: Die Provinz Kōzuke lag viele Tagesmärsche von der Kaiserstadt entfernt und sein Verwaltungsbereich riesig, doch irgendwie war es ihm möglich, sich sowohl auf seinen Ländereien regelmäßig blicken zu lassen, als auch den Kaiser tagtäglich zu besuchen, um nach dessen Befinden zu fragen.

»Mein lieber Hitsujidayū, dass du dir immer den weiten Weg für mich machst, nur um nach mir zu sehen«, freute dieser sich, wann immer sie sprachen.

Das Geheimnis des Edelmanns lag in einem Jüngling namens Kohagi Yatsuka. Wenn diese treue Seele ihn begleitete, liefen ihrer beider Pferde so schnell, dass die Hufe kaum den Erdboden berührten. Jeden Morgen sattelten sie auf und schossen aus dem Anwesen wie zwei silberne Pfeile, schnitten durch tiefhängende Wolken und ritten über die grünen Hügel hinweg der Hauptstadt entgegen.

»Ob es zwischen Himmel und Erde wohl jemanden gibt, der schneller ist als wir?«, lachte Hitsujidayū, und Kohagi lächelte voller Stolz, seinem Herren auf diese Weise dienen zu können.

Nun geschah es an einem heißen Sommertag, an dem die Verwaltungsstellen des Hofes geschlossen waren, dass Hitsujidayū den Tag im eigenen Anwesen verbrachte. Kohagi hatte so nichts zu tun und nirgends hinzugehen. Die meisten versteckten sich vor der sengenden Sonne im schattigen Haus, so dass Kohagi den Garten für sich allein hatte. Da streifte er das Obergewand ab und legte sich unter einen Baum, denn die leichte Brise auf der Haut war das Einzige, was ein wenig Abkühlung brachte. In der friedlichen Stille fiel er unwillkürlich in einen tiefen Schlaf.

Da kam Hitsujidayū auf seinem Spaziergang an dem jungen Mann vorbei. Erst wollte er schmunzelnd weitergehen, doch dann blieb der Edelmann stehen. Nun muss man wissen: als Kohagi in den Dienst von Hitsujidayū trat, hatte er als Bedingung genannt, dass man ihn nie zum Baden auffordern würde. Keiner hatte ihn in all den Jahren nackt gesehen, selbst in den heißesten Sommern nicht. Wie er nun dalag, mit dem bloßen Rücken zu Hitsujidayū gedreht, wurde dieser neugierig. Und als er sich dem Schlafenden näherte, entdeckte er zu seiner Verwunderung etwas Merkwürdiges unter dessen Achseln hervorschauen.

»Nanu? Kleben ihm Federn unter den Armen?« fragte er sich und konnte bei genauerem Hinsehen auch tatsächlich welche ausmachen. Nach der ersten Verwunderung beschlich den Edelmann der Schalk. »Er schläft so tief und fest. Ich will ihm einen kleinen Streich spielen.«

Ohne darüber nachzudenken, welche Bewandtnis das seltsame Gefieder haben könnte, rupfte Hitsujidayū die Federn mit einem festen Ruck aus und warf sie fort.

Am nächsten Morgen stieg er wie gewohnt mit Kohagi auf die Pferde und machte sich auf den Weg nach Nara. Anstatt wie sonst die Winde zerschneidend über die Hügel zu rasen, setzten die Gäuler heute aber nur müde einen Huf vor den anderen. Die Sonne stand bereits an ihrem höchsten Punkt, da hatten sie noch nicht einmal die Usui-Hügel erreicht, geschweige denn die Kaiserstadt.

»Was ist los, Kohagi? Lass die Pferde fliegen«, bat Hitsujidayū nervös und trieb seinen Hengst zur Eile an, doch der Jüngling hing vor Erschöpfung keuchend auf seinem ebenso ausgelaugten Tier und hatte Mühe, mit dem ungeduldigen Edelmann Schritt zu halten. Die Nacht brach herein, bevor sie auch nur den nächsten Ort erreicht hatten, und als Hitsujidayū sich umsah, war Kohagis Gestalt hinter ihm verschwunden.

»Kohagi! Wo bist du? Komm zurück zu mir, Kohagi!«, rief er entsetzt in den schwarzen Wald hinein, bis seine Stimme versagte, doch nichts antwortete ihm aus der Dunkelheit.

Im heimischen Anwesen war unterdessen Unruhe ausgebrochen, denn man hatte den Herrn des Hauses zum Abendmahl erwartet. Familie und Untertanen taten die ganze Nacht kein Auge zu, in der Hoffnung auf das erlösende Hufgetrappel. Einige ritten gar los, um nach ihm zu suchen, andere wachten auf dem Turm und harrten seiner Wiederkehr. Als er endlich zum Mittag des nächsten Tages heimkehrte, scharte sich der Hof um seine erschöpfte Gestalt.

»Was ist Euch geschehen Herr?«, wollten sie alle wissen. »Und wo ist Kohagi?«

Abkämpft glitt Hitsujidayū aus dem Sattel und zog sich wortlos in sein Gemach zurück.

Auch der Kaiser sorgte sich.

»Hat jemand Hitsujidayū aus Kozuke gesehen? Kommt er doch bei Wind und Wetter zuverlässig angeritten, ist er schon zwei Tage fort. Ist ihm etwas zugestoßen?«

Jedoch hatte keiner seiner Vasallen etwas aus der fernen Provinz gehört. Ohne neue Kunde vergingen zwei, drei, schließlich zehn und auch zwanzig Tage. Diese Gelegenheit nutzte ein Shōgun, um an den bekümmerten Kaiser heranzutreten.

»Hitsujidayū muss eine Kraft erlangt haben, die das Menschliche übersteigt. Sicher war sein täglicher Besuch am Hofe nur ein Vorwand, um den richtigen Moment für einen Aufstand zu finden, und jetzt hat er sich auf seine Burg zurückgezogen und rüstet zum Kampf.«

Nun muss man wissen, hatte besagter Shōgun vor einiger Zeit um die Hand einer der Töchter von Hitsujidayū angehalten und war abgewiesen worden, weshalb er dem Edelmann und seiner Familie Übles wollte. Dem Kaiser aber war dies unbekannt, so dass er keinen Grund hatte, dem Shōgun Böswilligkeit zu unterstellen, während die plötzliche Abwesenheit des Adligen aus Kozuke ihm Sorge bereitete. Nach langem Überlegen gab er dem Shōgun schließlich ein Heer, auf dass er dem Verdacht nachginge.

Als an einem Morgen die kaiserlichen Soldaten die Hügel erklommen, entdeckten die Töchter sie als erste und brachten die Kunde zu ihrem noch immer zurückgezogenen Vater. Dieser hatte im Leben nicht an einen Aufstand gedacht, doch als er die Flagge des brüskierten Feldherrn an der Spitze des Zuges sah, wusste er, dass er die Schlacht nicht verhindern konnte.

»Meine geliebten Töchter, kümmert euch nicht um mich. Flieht!«, sprach er zu seinen Kindern und setzte die weinenden Mädchen in ihre goldenen Sänften. Umwickelt mit Strohmatten sandte er sie los, begleitet von seinen besten Kriegern. Er entließ die Dienerschaft und gab ihnen aus der Schatzkammer, was sie tragen konnten – doch einige waren ihm so treu ergeben, dass sie ihm bis zum Schluss zur Seite standen. In der absehbar verlorenen Schlacht setzte er sein Schloss in Brand und starb dort, zusammen mit seiner Frau.

Die Tragödie nahm hier nicht sein Ende, denn die fortgekommenen sieben Sänften wurden bald eingeholt und die Töchter gefangengenommen. Der Shōgun sprach zu der Ältesten, der er zugetan war: »Werde meine Frau und lebe an meiner Seite am Hofe, so will ich deine Schwestern auch verschonen.«

Die sieben Töchter jedoch antworteten wie aus einem Mund: »Unsere Eltern hast du auf dem Gewissen. Bevor wir durch deine Gnade leben, wollen wir lieber sterben.« So wurden sie auf der Stelle enthauptet und mit ihren güldenen Sänften begraben.

Es gab aber auch Gerüchte, Hitsujidayū sei zu einem unsterblichen goldenen Schmetterling geworden und wäre gen Norden davongeflogen. Wieder andere erzählen, er wäre seinen Verfolgern entkommen und in die Provinz Musashi geflohen, wo er sich in den Bergen von Chichibu versteckt hätte.

Nachwort von Megumi

Die große Frage, die sich mir bei der Übersetzung stellte war: Warum Hitsuji(Schaf)? Nachdem ich dem Originaltext nur die Aussage »ein Mann wie Hitsuji« entnehmen konnte, machte ich mich weiter schlau und stieß auf eine sagenhafte Figur, die in der Nara-Ära unter dem vierzigsten Kaiser Tenmu aktiv gewesen sein soll. Sein vollständiger Name Tago Hitsujidayū ist auf dem Tagohi verzeichnet, die man als besondere historische Stätte in Takasaki besuchen kann. Es gibt Hinweise darauf, dass er mit dem Fund einer Kupfererzader und dessen Schenkung an den Kaiserhof zum Ärawechsel von Keiun auf Wadō beigetragen haben soll. Ob der Finder und Hitsujidayū wirklich ein und die selbe Person waren, ist aber nicht nachzuweisen.

Sein Name leitet sich aus den Inschriften auf dem Tagohi ab, das sagt, dass im »vierten Jahr von Wadō dreihundert von drei benachbarten Bezirken abgetrennt und dem, der »Schaf« sei, als Provinz überlassen« worden sei. Nun handelt es sich bei dem Tagohi aber um Inschriften auf Stein, auf denen Informationen möglichst verkürzt wurden. Über die Herkunft des »Schafs« im Namen wurde lange debattiert, ob Sippen oder Himmelsrichtungen hineingespielt hätten – dazu muss man wissen, dass die Himmelsrichtungen in Asien unter den Tierkreiszeichen aufgeteilt sind, und Affe-Schaf dem Nordwesten entspricht. Unter anderem daher stammen diese Vermutungen:

  • es könnte sich um die historische Persönlichkeit Fujiwara no Fuhito, einem höfischen Beamten der frühen Nara-Periode handeln

  • »Hitsuji« stammt vom Namen der Schutzgottheit der Sippe Mononobeuji ab, dem Futsunushi no Kami

  • er kam vom Kontinent und hatte Verbindungen zum Hatauji-Clan

  • da es im Hitsuji-Schrein einen Bezug zu »Hi« = Feuer gibt, könnte er aus Zentralasien gestammt und den Zarathustra-Glauben mitgebracht haben

  • auf Grund von Fundstücken in der Region, die auf einen frühen Zweig des christlichen Glaubens hinweisen, besteht auch der Verdacht, dass es ein Anhänger desselben war

Am Ende meiner Suche bin ich also so schlau wie zuvor, denn niemand kann mit Gewissheit sagen: Warum Schaf?

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