Der Knabe, der auf dem Otomehügel schläft

In der Präfektur Shizuoka erzählt man sich die Geschichte des kleinen Tasaku.

Am Sengokuhara in Hakone, einem Ort nahe Fuji, lebte eine Frau mit ihrem Sohn. Tasaku war gerade mal zehn Jahre alt und liebte seine Mutter über alles.

Rundherum gab es in der Gegend Dörfer, doch je weiter oben man in den Bergen wohnte, umso steiniger war die Erde. Auch die Wasserzufuhr war schlecht und so hatten jene Anwohner es dort schwer. Für eine alleinstehende Frau mit einem Kind reichte es nicht, um vom Ertrag des eigenen Feldes leben zu können. Dazu litt die Mutter immer wieder unter unerklärlichen Schmerzen und Krämpfen, was ihr die Arbeit umso mühsamer machte. Trotzdem arbeitete die Frau hart und fromm, bestellte das Feld, sammelte Feuerholz und kümmerte sich abends noch um Näharbeiten für die Dorfleute. Sie ertrug alles ohne Beschwerden, denn ihr Kind zu sehen, wie es heranwuchs, war ihr Lohn und Freude genug. Im ganzen Dorf war man von ihrem Fleiß beeindruckt und Tasaku lobte man für die Elternliebe. So oft der Knabe konnte, half er seiner Mutter nach Leibeskräften und beide verbrachten auf diese Weise ihre Zeit in Freude und Anstrengung voran.

»Mama, heute scheint es dir gut zu gehen.«

»Ja, heute werde ich gar nicht müde!« An solchen Tagen lebten sie glücklich und freuten sich gemeinsam.

»Mama, heute siehst du so blass aus. Geht es dir gut?«

»Ach, sorg dich nicht. Wir machen noch ein kleines bisschen, dann gehen wir heim.« An solchen Tagen unterstützten sie einander und schafften das Tagewerk zusammen.

Doch litt die Mutter weiter unter den Krämpfen, die ohne Vorwarnung immer wieder über sie hereinbrachen und sie nächtelang wachhielten und quälten. Kein Arzt wohnte hier, der ihr helfen konnte, und die nächste Ortschaft lag mehr als zwei Ri entfernt, dazu noch hinter dem Otome-Hügel. Aber selbst wenn die beiden den schweren Weg geschafft hätten, blieb einfach nicht genug Geld, um einen Arzt zu bezahlen.

So arbeitete die Frau tagein, tagaus weiter, bis eines Tages Tasaku herangerannt kam.

»Mama, es soll unten in der Stadt Gotemba eine ganz tolle Medizin geben, die dir helfen kann. Die Leute im Dorf haben davon erzählt«, rief er ihr begeistert entgegen.

Doch die Mutter lächelte nur traurig.

»Ja, ach wenn wir nur das Geld dafür hätten.«

»Das macht nichts«, grinste Tasaku. »Ich werde arbeiten und das Geld dafür verdienen. Du wirst schon sehen!«

Und noch ehe sich die Mutter versah, ging der Knabe los. Er fragte im Ort herum, bis er einige kleinere Aufgaben fand und fing an, diese abzuarbeiten – von Botengängen bis zum Kinderhüten. Dabei sparte er sorgsam jede einzelne Münze zusammen und schaffte es so einen ordentlichen Betrag zu sammeln. Stolz präsentierte er seiner Mutter das Angesparte und kündigte an, sofort nach Gotemba hinab zu steigen und die Medizin zu kaufen.

Seine Mutter wollte ihn aufhalten, doch sie konnte den Kleinen nicht mehr einfangen, der schnell wie der Wind aus der Tür verschwand und sich auf den Weg machte. Das Leiden fesselte die Frau ans Bett, so dass sie ihm nicht folgen konnte. Sorgenvoll verharrte sie im Haus und wartete auf ihren geliebten Sohn. Es dauerte mehr als einen halben Tag, den der Junge für den Weg brauchte, doch dann war er am späten Nachmittag endlich wieder zurück, in den Händen die dringend benötigte Medizin.

»Ich habe mir solche Sorgen gemacht«, empfing die Mutter Tasaku und drückte ihn an sich. »Dass du mir einmal Medizin kaufen würdest, hätte ich mir nie erträumt.« Und unter Freudentränen nahm sie auch gleich ein wenig davon.

Das Mittel wirkte wahre Wunder. Es half fast sofort und sie konnte wieder aufstehen, ohne sich vor Schmerz zu krümmen. Von da an verwahrte sie die Medizin sorgsam und verzehrte sie jedes Mal ein, wenn die Krämpfe sie befielen.

Die Arbeit wurde in diesen Tagen einfacher, doch der Vorrat an dem Wundermittel verringerte sich so natürlich stetig.

Es kam einige Zeit später, an einem regnerischen Tag, da sank die Mutter mit einem qualvollen Laut in die Knie. Tasaku war sofort heran.

»Mama, schnell, deine Medizin!«

Doch die Frau schüttelte nur schwach den Kopf. Von dem Mittel war nichts mehr im Haus. Hilflos schaute der Sohn zu, wie seine Mutter litt und die Krämpfe länger anhielten als sonst. Schweißgebadet jaulte sie auf, dass Tasaku nicht mehr tatenlos zusehen konnte.

»Ich gehe noch mal nach Gotemba. Ich habe schon so viel angespart wie beim letzten mal, davon kaufe ich dir neue Medizin.«

»Nein, das darfst du nicht«, keuchte die Mutter und versuchte ihn zu erreichen. »Tagsüber ist der Weg schon viel zu weit und jetzt ist schon so spät, das ist zu gefährlich. Warte bis morgen früh.«

»Keine Sorge«, erwiderte Tasaku selbstbewusst grinsend. »Es ist ja nicht mein erstes Mal und wenn ich ein Licht habe, dann brauche ich vor der Dunkelheit keine Angst zu haben.«

Wieder war er aus dem Haus, ehe sie ihn zurückhalten konnte.

Der Junge schnappte sich die Laterne, hüllte sich in einen Mino und flitzte in die Abenddämmerung hinaus. Regen prasselte herab und kein weiteres Licht drang vom Himmel zu ihm hindurch. Der tapfere Tasaku zupfte jedoch entschlossen seinen Strohmantel zurecht und schritt mutig voran.

Nun war es damals so, dass der Otome-Hügel eine Verbindung zwischen Gotemba und Hakone gewesen war. Das hatte sich geändert, als ein Grenzposten erbaut worden war, und die Strecke wurde von da an kaum noch genutzt. Entsprechend verwilderte alles und es hieß, dass Wölfe das Gebiet eingenommen hatten.

Die Mutter konnte kein Auge zutun, seit ihr Sohn sich auf den Weg gemacht hatte. Mitten in der Nacht ließ immerhin der Schmerz nach, so dass sie es schaffte wieder aufzustehen. Von Tasaku war jedoch keine Spur zu finden und das, obwohl die fünf Stunden, die man für die Strecke als Kind brauchen sollte, längst überschritten waren.

Von Sorgen geplagt machte sie sich stetig Vorwürfe und in ihrem Kopf malten sich die schlimmsten Szenarien aus. So konnte auch sie nicht mehr an sich halten und lief verzweifelt im Dorf umher, weckte aufgeregt einige der Nachbarn. Wo sie hinkam, bat sie die Männer um Hilfe, um nach ihrem Sohn zu suchen. Da beide sehr beliebt waren, willigten alle sofort ein. Ausgerüstet mit Fackeln bildeten sie kleine Gruppen und machten sich auf in die Nacht.

Man hörte sie Tasakus Namen rufen, während sie den Otomo-Hügel hinaufstiegen. Die Lichtpunkte ihrer Feuer tanzten, so dass man ihre Suche im Dorf beobachten konnte. Auch die Mutter war dabei und schaute hinter jeden Fels.

Am höchsten Punkt hielten die Lichter schließlich an. Dort fanden sie den kleinen, verletzten Körper des Jungen. Zusammengerollt und einsam lag der zierliche Körper des Jungen da, inzwischen genauso kalt wie die Erde. Von dem Strohmantel war nichts mehr übrig und im nahen Umkreis fanden sich versprengte Blutspuren. Die steifen Hände fest um seine Hemdbrust geschlossen, hatte ihn das Leben bereits verlassen. Doch in seinem Kimono, geschützt von seinen Armen trug er die Medizin noch bei sich, die er in Gotemba erstanden hatte.

Und so steht bis heute ein namenloses Gedenkstein auf dem Gipfel des Otome-Hügels. Dieser soll dem einst so tapferen Jungen zu Ehren errichtet worden sein.

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Nachwort von Ellen

Ein Märchen, dass mir jedes Mal die Tränen in die Augen treibt. Selten findet man Erzählungen, in denen eine so sympathische Kinderfigur letztlich doch ihr Leben lässt. Trotzdem zeigt es sehr schön auf, wie tief die Liebe zwischen Kind und Mutter gehen kann, umso härter trifft es einen am Ende, dass der Kleine es nicht zurückgeschafft hat.

Auch finde ich bezeichnend, wie Pflichtbewusstsein und Elternliebe hier stark thematisiert werden. So herzzerreißend die Geschichte ist, hilft mir jedoch das Ende und der Verweis auf die Gedenkstätte, die bis heute noch an den liebenswerten Tasaku erinnert. Bis zum letzten Atemzug hat er die Medizin beschützt und wenigstens gelangt diese so an seine Mutter.

Ein kleiner Trost zwar, aber doch irgendwie immerhin eine winzige Hoffnung.

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