Chōhei und der Kappa von Hida

Im Norden des Berglandes Hida, das in der Gifu Präfektur liegt, gab es einen Ort mit Namen Kawai. Hier lebte der fleißige Bauer Chōhei, der jeden Tag pflichtbewusst seiner Arbeit nachging.

Er pflanzte oft Gurken an, so auch in diesem Jahr, säte dabei ungewöhnlich viele aus. Sein Einsatz trug reichlich Früchte. So kam es im Sommer zu einer riesigen Ernte, dass er fast jeden Tag einen großen Korb der Gemüsepflanzen nach Hause bringen konnte.

Frisch schmeckten sie am besten, doch auch eingelegt behielten sie einen guten Geschmack. Da es so viele waren, verschenkte er zudem einige im Dorf und die Bewohner dankten ihm und freuten sich.

Doch eines Morgens kehrte Chōhei wieder aufs Feld und sah sich verwundert um.

»Was ist denn das?«

Keine einzige Gurke befand sich mehr hier.

»Ob sich ein Dieb daran vergriffen hat?«, überlegte er, während er zwischen den Reihen hindurch schritt und sich umschaute. Nirgendwo gab es eine Spur, so beließ er es irgendwann dabei und ging nach Hause zurück.

Drei Tage später kehrte er wieder. Keine Gurke. Erneut erhob sich vor ihm ein geplündertes Feld. Von dem Anblick erschlagen warf er frustriert den Korb davon und schnaubte vor sich hin.

»Das kann doch nicht wahr sein!«, schimpfte er.

Erneut hatte jemand alle Feldfrüchte geklaut. Wenn dieser Streich so weiterging, würde allmählich das Gut in Chōheis Heim wieder knapp.

Da er allerdings zu diesem Zeitpunkt nichts machen konnte, kehrte er auch heute unverrichteter Dinge zurück. Fest entschlossen den Dieb zu fangen, fing er an die nächsten Tage, das Feld zu bewachen. Aber egal wie lange er dort verbrachte, gewann er keine neuen Erkenntnisse. Nie erwischte er jemanden und so entschied er sich eines Morgens, noch vor Sonnenaufgang, auf die Felder zu gehen.

Es war recht düster, doch im schwachen dämmrigen Licht konnte er tatsächlich eine kleine Figur ausmachen, die sich auf den Feldern schmatzend über die Gurken hermachte.

Chōhei setzte das Herz einen Schlag aus. Einmal tief durchgeatmet, versuchte er an die Gestalt heranzuschleichen.

Je näher er kam, umso mehr konnte er sie ausmachen. Sie war nicht größer als ein zweijähriges Kind und nackt – weder Hund noch Marderhund und auch kein Otter.

Flink krabbelte es zwischen den Pflanzen umher und verschlang genüsslich eine Gurke nach der anderen. Diese Unverfrorenheit schürte die Wut in Chōhei und kurzentschlossen sprang er mit einem Stock heran und schlug auf das Wesen ein.

»Gurkendieb!«, rief er außer sich und schaffte es, die seltsame Kreatur zu Boden zu ringen und mit seinem Obi zu fesseln.

Das nackte Geschöpf wand sich, heulte und pfiff in unmenschlichen Lauten. Chōhei gab jedoch nicht nach und schleifte es direkt mit nach Hause. Dort angekommen band er die Kreatur in seinem Garten an einem Baum fest. Hierbei knüpfte er einen Knoten um den Arm des Wesens und schlang den Rest des Seiles um den Stamm.

Inzwischen schob sich die Sonne über den Horizont und von dem Lärm wurden die Nachbarn angelockt.

»Seht, Chōhei hat etwas Merkwürdiges gefangen!«

»Ist es aus den Bergen oder aus dem Fluss?«

Eine Menschentraube sammelte sich um den Baum, doch konnte niemand sagen, was für ein absonderliches Wesen hier nun vor ihnen lag. Die Haut rötlich, fast schwarz, auf dem Kopf etwas, das wie ein unförmiger Teller wirkte und es stank unangenehm nach Faulendem. Die ganze Zeit über pfiff es jämmerlich vor sich hin. Die Dorfbewohner piksten es mit Stöcken und warfen Steine danach.

Das Wesen rollte sich zusammen und versuchte, den Angriffen zu entgehen, hüpfte mal von links nach rechts und wieder zurück, soweit die Fessel es ihm gestattete. Am Abend war es ihm jedoch zu viel und es wurde schlaff.

Die Nachbarn waren bereits in ihre Heimstätten zurückgekehrt und es wurde still. Einzig die Dienstmagd aus Chōheis Haus ging noch einmal nach draußen und begutachtete das kleine Ding im Garten. Sie wagte nicht, es anzufassen, nahm jedoch ihre Schöpfkelle und klopfte damit dem Wesen leicht auf den Kopf. Von dem Restwasser schwappte etwas heraus und traf den tellerförmigen Bereich auf dem Haupt.

Plötzlich sprang das Geschöpf auf die Beine und gebärdete sich wie wild. Es stemmte sich gegen das Seil, zog und zerrte und hüpfte hin und her, bis es sich mit einem gewaltigen »Ratsch« den angebundenen Arm abriss und in Richtung Fluss entkam. Die Magd war so erschrocken, dass sie ängstlich aufgeschrien hatte und ins Haus geflüchtet war.

Helle Aufregung brach los.

»Das Monster ist entwischt! Helft alle suchen!«

Und im ganzen Dorf kamen die Bewohner heran und suchten gemeinsam die Umgebung ab. Sie blieben jedoch erfolglos und der Trubel legte sich über Nacht wieder.

Am nächsten Tag ging Chōhei zu seiner Arbeit und machte sich auf zum Feld. Auf dem Weg bemerkte er, wie am Rande die Gräser wackelten und kurz darauf sprang plötzlich ein Wesen vor ihn.

»Chōhei-san«, begann es mit hoher, piepsiger Stimme. »Bitte sei mir nicht mehr böse. Ich bin der Kappa, der hier im Fluss lebt und habe deine Gurken geklaut. Das tut mir wirklich leid!«

Es schien tatsächlich das gleiche Geschöpf zu sein, das am Abend entkommen war, denn ihm fehlte der linke Arm.

»Du bist ein Kappa?«, wiederholte der Bauer nur und musterte das kleine Ding.

Natürlich kannte jeder die Geschichten dieser Wesen, aber noch nie hatte jemand von einem Kappa in den Bergen von Hida gehört.

Demütig senkte der Kleine nun sein Haupt, stützte sich mit der verbliebenen Hand auf und verbeugte sich fortwährend.

»Chōhei-san«, begann er erneut. »Ich versprech’s, ich werde nie wieder Unfug treiben. Keine Streiche und nichts stehlen, ich will ein guter Kappa sein. Nur verzeih mir, was ich getan habe und gib mir bitte meinen Arm zurück.«

Chōhei musterte den Kappa, wie er wieder und wieder den Kopf senkte und um Verzeihung flehte. Ein bisschen konnte er ihm schon leidtun, mit diesem Stumpf, der als einziges von dem Arm an seinem Körper übrig geblieben war.

»Na gut«, seufzte der Bauer. »Wenn du versprichst nicht mehr zu stehlen und keine Streiche mehr spielst, kannst du den Arm zurückbekommen.« Doch Kappas galten als gefährlich, deshalb setzte Chōhei mit schmalen Augen nach: »Sag mal, sollen Kappa nicht im Fluss leben und dort die Kinder stehlen, die am Ufer spielen?«

»Nein, nein, sowas tu ich nicht! Niemals!«, beteuerte der Kleine sofort. »Ich will nur meinen Arm wieder. Ich werde auch wirklich niemandem mehr je einen Streich spielen.«

Da Chōhei ein gutes Herz hatte und das nackte Geschöpf nicht leiden lassen wollte, nahm er ihn mit zu sich nach Hause und gab ihm den Arm zurück.

»Vielen Dank, lieber Chōhei-san,« freute sich der Kappa und sich verneigte noch einmal überschwänglich. »Dann mach’s gut!«

Flink wie er war, verschwand er über den Fluss.

Am nächsten Tag trat Chōhei hinaus in seinen Garten und staunte nicht schlecht. An einem hölzernen Haken, den er dort hatte stehen lassen, hingen sechs frisch gefangene Flussfische. Auch in den kommenden Tagen passierte es auf die gleiche Weise: Jeden Morgen fand er frischen Fisch und so hatten sie im Haus immer gut zu essen.

Niemand wusste, woher der Fang kam, doch Chōhei war sich sicher, dass er das dem Kappa zu verdanken hatte. Und wenn er an den Kleinen zurückdachte, kam ihm die unansehnliche Gestalt jetzt liebenswert vor.

Es verstrichen einige Tage und an keinem blieb Flussfischlieferung aus. Mit der Zeit jedoch wurde der Holzhaken marode und drohte zu zerbrechen. Chōhei beschloss, ihn durch einen Stabileren zu ersetzen. Aus Eisen sollte er dieses Mal sein, ließ diesen fertigen und hängte bald den neuen Haken draußen auf.

Von da an jedoch hing dort kein Fisch mehr und Chōhei musste ohne diese stetige Gabe weiter seine Familie versorgen. Denn Kappas, so weiß man inzwischen, mögen keine Metalle und können sich diesem nicht einmal nähern.

Nachwort von Ellen

Selbst in der Gegenwart finden sich in Japan an Gewässern Warnhinweisschilder, die vor Kappas warnen. Außerdem wird bis heute ein, so sagt man, echter Arm eines Kappas verwahrt und immer mal wieder gezeigt. Die erste Ausstellung war hierbei in der Residenz Shimazu in Miyakonojō in der Präfektur Miyazaki auf der Insel Kyūshū.

Irgendwie fällt auf, dass Kappas häufiger ihre Arme verlieren. Diese Yokai kommen oft in Animes und Mangas vor. Ein sehr schöner Film mit einem kleinen, guten Kappa ist »Kappa no Kū to Natsuyasumi«, im deutschen als »Ein Sommer mit Coo« erschienen. Auch hier geht es stellenweise um einen abgetrennten Kappa-Arm. Sehr zu empfehlen, also schaut ihn euch an, wenn ihr die Chance dazu habt.

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