Yukionna

Im weiten Hida-Gebirge ragt unter anderem der Shirouma-Berg fast dreitausend Meter in den Himmel. Er wird im Nihon Hyakumeizan erwähnt und ist bekannt für seine endlosen Wildblumenwiesen im Sommer, wie auch das größte Tal in ewigem Schnee landesweit. Im Sommer zeigen sich dort Felsspitzen, die an Pferde erinnern, woher der Berg seinen Namen hat. Die Winter dort sind geprägt von großen Schneemengen und eisigen Winden, und in genau so einem Winter beginnt diese Geschichte.

Am Fuße des hohen Shiroumadake lebten einmal der alter Jäger Mosaku und sein Sohn, Minokichi. Zu zweit bewohnten sie eine kleine Hütte am Rande eines Dorfes und lebten hauptsächlich von dem, was die Berge ihnen gaben.

An einem Tag im späten Herbst zogen Mosaku und Minokichi gemeinsam los, um zu jagen. Sie folgten dem Wild durch den dichten Kerbbuchenwald, tiefer und tiefer in die Berge hinein, bis es plötzlich dunkler wurde um sie herum. Düstere Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, und von den Berggipfeln heulten eisige Winde durch Felsspalten und kahle Bäume. Mosaku blickte nachdenklich in den Himmel.

»Vater«, rief sein Sohn verunsichert und schloss zu ihm auf, doch der alte Jäger murmelte nur ruhig: »Es wird schneien. Komm, Mino. Wir gehen zur Berghütte und warten den Sturm ab.«

In schnellen, sicheren Schritten eilten sie los, stets bedacht, nah beieinander zu bleiben. Im schneidend kalten Wind begannen alsbald die ersten wilden Schneeflocken zu wirbeln, und kaum dass sie sich versahen, war alles um sie herum von ihnen bedeckt. Wo im Sommer die Weißbirken ihre grünen Blätter spielen ließen und Primeln den Boden in einen bunten Teppich verwandelten, ragten die nackten Stämme aus der gefrorenen Erde wie die ausgeblichenen Knochen eines Riesen. Alle Tiere flüchteten so schnell es ging in den Schutz ihrer Baue, ja das Leben selbst schien sich in Sicherheit zu bringen. Sehr bald waren die zwei Männergestalten die einzigen, die sich durch diese gespenstische Landschaft bewegten, verbissen und zielstrebig. Bis sie die Jagdhütte erreichten, hatte sich ein ausgewachsener Schneesturm erhoben, der ihnen die Tränen an den Wimpern gefror. Endlich angekommen atmeten sie kurz auf.

»Heute Nacht bleiben wir wohl hier«, brummte Mosaku, während er die hölzerne Schiebetür einer weiteren Prüfung unterzog. Sie entzündeten ein Feuer in der Feuerstelle und kochten aus einer Handvoll getrocknetem Fleisch und Gemüse eine fade Suppe, um sich aufzuwärmen, dann kam eine schwere Müdigkeit über sie beide. Während der Alte bereits auf der Seite lag und vor sich hinschnarchte, bemühte sich Minokichi die Augen länger offen zu halten. Doch auch er sank in einen unruhigen Schlaf, immer wieder unterbrochen vom Rattern der Holzladen und dem Heulen des Sturmes. Mitten in der Nacht erwachte der junge Jäger von einem beunruhigenden Geräusch. Er wollte sich aufrichten, aber konnte sich nicht rühren, als wäre sein Körper nicht sein eigener. Mit Mühe öffnete er seine Augen einen Spalt breit und hörte sich selbst leise stöhnen, da erschallte es wieder: Das Klappern von Holz, das ihn geweckt hatte. Im nächsten Moment schob sich die Tür ruckartig auf. Aus den Augenwinkeln erkannte er die Silhouette einer Frau.

»Wer bist du?« wollte er rufen, doch seine Stimme erhob sich nicht. Gelähmt wie er war konnte er nichts tun, als zu beobachten, wie die Fremde die Hütte betrat. Im Schein des ersterbenden Feuers erschien ihre Haut durchscheinend weiß, nur die Lippen blutrot, und das im Nacken lose zusammengebundene Haar glänzte, als wäre es nass. In jeder anderen Lage hätte ihre Schönheit Minokichi das Herz gestohlen. Jetzt aber gewahrte er voller Entsetzen, wie sie sich lautlos näherte und sich ans Kopfende seines Vaters hockte. Es war still, so still, dass er meinte den Schnee fallen zu hören. Dann erfüllte der süße Klang ihres Atems den Raum, als ihrem Mund ein eisiger Hauch entfleuchte und den alten Jäger mit einem Frostkleid bedeckte.

»Wer bist du?«, versuchte er zu sagen, doch Minokichi kämpfte vergeblich um seine Stimme. Das einzige, was sich an ihm bewegte, waren die weit aufgerissenen Augen, in denen sich die Frauengestalt spiegelte, als sie als nächstes zu ihm kam.

»Wie schön du bist.« Ihre Stimme war sanft und leise. »Ich mag dich, also will ich dich verschonen. Doch wenn du auch nur einer Menschenseele von mir erzählen solltest, sei dir gewiss, dass es dich dein Leben kosten wird.«

Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da verschwand das Mädchen, als wäre sie nie da gewesen. Mit ihr lösten sich die unsichtbaren Fesseln, so dass Minokichi sich überschlagend aufsprang und an die Seite seines Vaters eilte.

»Vater!« Er rüttelte an Mosaku, zerrissen zwischen der Angst, die ihm noch in den Knochen saß und Zweifeln, ob er sich alles eingebildet hatte. Der alte Mann aber regte sich nicht. »Vater!« rief Minokichi ein weiteres mal, ehe er entgeistert zurückwich. Sein Vater hatte in dieser Nacht seinen letzten Atemzug getan.

Der Morgen brach an wie jeder andere. Durch die unschuldig weiße Schneedecke taumelte Minokichi ins Dorf zurück und berichtete den entgegeneilenden Bewohnern vom Tod seines Vaters. Mit ihrer Hilfe wurde der alte Mann geborgen und bestattet, wie es sich gehörte. Danach kehrte für Minokichi ein einsames Leben in der kleinen Hütte am Dorfrand ein. Er ging allein auf die Jagd und aß seinen Eintopf allein, der immer fade schien, auch wenn er noch so viel Fleisch und Gemüse hineingab. Der Winter verging, das Grün lebte wieder auf und mit ihm zeigten sich die pferdeförmigen Felsen im ewigen Schnee des Shirouma-Berghangs.

Es begab sich an einem Abend im Winter darauf, da es an seine Tür klopfte. Minokichi öffnete verwundert, ob einem Nachbarn wohl etwas fehle, doch vor ihm stand ein wunderschönes junges Mädchen.

»Ich habe mich auf der Reise verlaufen und weiß nicht wohin. Könnte ich zur Nacht wohl hier einkehren?« fragte es höflich.

Minokichi sah verlegen über die Schulter in seine bescheidene Behausung und antwortete: »Ich lebe allein und hätte nicht einmal gutes Essen, das ich anbieten könnte. Vielleicht fragst du besser im nächsten Haus.« Die junge Frau senkte entmutigt den Kopf. Sie sah so blass und erschöpft aus, dass er nun doch ein schlechtes Gewissen hatte, sie fortzuschicken. »Aber wenn es dich nicht stört, komm herein.«

Er gab ihr das eine Kissen an der Feuerstelle, das er besaß, und bot ihr von dem einfachen Eintopf. Dann leistete er ihr Gesellschaft und sie erzählte von sich. Ihr Name war Oyuki, sie hatte weder Eltern noch Geschwister und war auf der Suche nach einem Ort, wo sie bleiben konnte. Die zwei einsamen jungen Herzen neigten einander zu, und so blieb Oyuki nicht nur diese, sondern auch die darauf folgenden Tage. Es dauerte nicht lange, bis sie sich entschloss zu bleiben und seine Frau zu werden.

Es folgten Jahre in großem Glück. Das junge Paar wurde beschenkt mit gesunden Kindern, und es fehlte ihnen an nichts. Er ging des Tags auf die Jagd, während sie sich um das Haus, das kleine Feld und Arbeiten für Nachbarn kümmerte, und nachts kehrten alle ein in die Hütte, die nicht größer, aber erfüllter war.

»So ein Glückspilz, der Minokichi«, sagten die Leute im Dorf.

»Schaut euch nur an, wie schön Oyuki ist! Kaum zu glauben, dass sie schon fünf Kinder zur Welt gebracht hat!«

»Sie ist in zehn Jahren um keinen Tag gealtert.«

Beliebt und bewundert erschien Oyuki über all die Jahre so jung und weißhäutig wie an dem Tag, an dem sie ins Dorf gekommen war.

Eines Abends saß das Paar beieinander am Herdfeuer. Die Kinder schliefen tief und fest, Oyuki nähte an einem Kimono, und Minokichi lag auf der Seite nach einem langen Tag in der Kälte. Draußen tobte ein Schneesturm und rüttelte an den verriegelten Holztüren und Fensterläden.

»Wie in jener Nacht«, kam es Minokichi in den Sinn, als er seine Frau im matten Feuerschein betrachtete.

»Was meinst du?«, fragte Oyuki, und erst da wurde Minokichi bewusst, dass er seinen Gedanken ausgesprochen hatte.

»Die Nacht, in der mein Vater starb. Weißt du, mein Vater …«, begann er und erzählte seiner Frau von der Angst, die er damals durchgestanden hatte. »Ja, sie sah aus wie du. Ihre Haut schneeweiß, das Haar so schwarz, als wäre es nass, und nur die Lippen tief rot. Ein wunderschönes Wesen. Ob das wohl eine Yukionna war?«

Als er bis dahin gesprochen hatte, legte Oyuki langsam das Nähzeug nieder und erhob sich.

»Nun hast du das Versprechen doch gebrochen«, sprach sie traurig, leise und mit zitternder Stimme. »Erinnerst du dich, dass ich sagte ich würde dein Leben holen, wenn du jemals jemandem von mir erzählst? Aber nun haben wir Kinder, und ich kann dich nicht töten. Ich aber muss gehen.« Sie ließ Kopf und Schultern sinken, während Minokichi sich aufrichtete, noch unfähig zu begreifen, was sie da gerade sagte. »Was soll ich es nun noch verbergen? Ich bin die, die damals in eure Hütte kam und deines Vaters Atem stahl. So wie du sagst, ich bin eine Yukionna. Ich bin ein Geist des Schnees.«

Als Minokichi aus seiner geistigen Betäubung wieder erwachte, war ihre Gestalt bereits verschwunden. Das einzige was noch zu hören war, war das Flüstern des Schnees, das durch einen Spalt in der Tür hereinrieselte.

Nachwort von Megumi

Die Geschichte stammt aus meiner Heimatregion Nagano. Sie liegt quasi im Herzen Japans – dabei ist Nagano sowohl der Name der Präfektur als auch ihrer Hauptstadt. Der Landstrich ist umzingelt von hohen Bergen in alle Richtungen, bekannt für die Apfelplantagen und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse, und nicht zuletzt beliebt als Wintersportgebiet. Ich selber habe nicht viele Winter dort erlebt, aber die, die ich erlebt habe, haben mich mit ihrem Schneereichtum schier verzaubert. Unter anderem war ich sehr beeindruckt von den vier bis fünf Meter hohen Schneeskulpturen, die mancherorts jährlich erstellt werden.

Das Märchen von Yukionna, das ebenfalls zu den sehr bekannten Kindermärchen in Japan gehört, spiegelt meiner Meinung nach das zwiespältige Verhältnis der Menschen zur Natur wider: Auf der einen Seite steht sie als tödliche Entität, der man hilflos ausgeliefert ist, auf der anderen Seite eine gegenseitige Liebe, die versucht, Brücken zwischen den Welten zu schlagen.

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