Okiku’s Brunnen

In der Hyōgo Präfektur in der Region Kansai steht die berühmte Burg Himeji. Dort auf dem Gelände befindet sich ein alter Brunnen, der ungefähr zehn Meter tief reicht und derzeit mit einem Metallgitter abgedeckt ist. Schaut man hinab, kann man die üppige Vegetation erkennen, die sich seit unzähligen Jahren dort ausgebreitet hat.

32 Steinsäulen säumen die Brunnenmauern und sind nach einem spezifischen Muster angeordnet. An jeder Seite des achteckigen Gebildes erheben sich drei kürzere Säulen, an den Ecken jeweils etwas größere, und rahmen es ein.

So besteht die Anlage seit etlichen Jahren. Das Schloss selbst wurde mehrfach erweitert und umgebaut, oder nach Schlachten von den Grundrissen wieder aufgebaut.

Burg Himeji ist eine beliebte Touristenattraktion und gut besucht. Doch birgt das Gebilde des Brunnens auch ein Geheimnis.

Manchmal, so erzählt man sich, kann man hier eine schauerliche Gestalt antreffen. Es heißt, ihr Name sei »Okiku«, und nur nach Einbruch der Nacht ist es möglich ihr zu begegnen. Am besten wartet man in der Nähe des Brunnens und legt sich auf die Lauer.

Aus den Tiefen entsteigt der Geist einer Frau und fängt an von eins bis neun zu zählen. Nachdem sie bei neun angekommen ist, reißt sie den Mund auf und bricht in herzzerreißendes Heulen aus, das jedem das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Okiku ist nicht dafür bekannt, Menschen anzugreifen. Doch da es der ruhelose Geist einer leidenden Seele ist, sollte man sich nicht darauf verlassen. Zudem kann ihr Jaulen einen zutiefst in Angst versetzen und eine Begegnung mit einem Wesen wie ihr läuft selten spurlos ab. Es kursieren Gerüchte, laut denen das Metallgitter das Mädchen im Brunnen hält, damit sie nicht erscheinen kann. Aber oftmals finden Geister trotzdem ihren Weg in diese Welt.

Sollte man auf sie treffen, gibt es jedoch eine Möglichkeit, ihren Schrei zu vermeiden. Nachdem sie bis neun gezählt hat, und bevor sie zu heulen beginnt, muss man laut die Zahl »zehn« rufen.

Gelingt einem dies, stößt sie einen Seufzer aus und verschwindet wieder.

Die Geschichten um Okiku sind in Japan weit verbreitet und bekannt. Sie unterscheiden sich in einzelnen Details, aber das Verhalten des Geistes bleibt stets das gleiche: Sie krabbelt aus dem Brunnen, fängt an zu zählen und jault schließlich los.

Die Version der Burg Himeji erzählt die Geschichte folgendermaßen:

Einst soll Okiku eine Magd des Samurai Tetsuzan Aoyama gewesen sein. Aoyama war Gefolgsmann von Norimoto Kodera und plante einen Anschlag auf seinen Herrn. Als Bedienstete bekam Okiku davon Wind und informierte ihren geliebten Motonobu Kinugasa darüber.

Dieser war Norimoto Kodera treu ergeben und so konnte das Attentat verhindert werden. Trotzdem übernahm Aoyama die Regentschaft und war erbost über seinen Fehlschlag Norimoto zu töten. Er wollte den Schuldigen finden, der seinen Plan vereitelt hatte.

Motonobu Kinugasa fürchtete um sein eigenes Leben und verriet das hübsche Mädchen Okiku an einen Vertrauten Aoyamas namens Danshirō Chōnotsubo. Von der Schönheit Okikus in den Bann geschlagen, wollte dieser sie dazu bringen ihn zu heiraten.

Doch Okiku war treu und liebte Motonobu unendlich, so dass sie sämtliche Avancen ablehnte. Das erzürnte Danshirō und er ersann eine List. Hierfür stahl er einen von zehn wertvollen Tellern der Familie Aoyamas und bezichtigte das Mädchen des Diebstahls.

Okiku, die die Anschuldigung widerlegen wollte, suchte vergeblich das Geschirr. Natürlich konnte sie es nirgends finden. Doch Danshirō bot ihr an, ihr Leben zu retten, wenn sie seine Frau werden würde. Aber selbst unter der falschen Anklage, gegen die sie nicht ankommen konnte, lehnte sie weiterhin ab.

Von Wut überkommen erschlug Danshirō das junge Mädchen und warf den leblosen Körper in den Brunnen. Von da an blieb ihre Seele daran gefesselt und sie erscheint wieder und wieder, sucht immer noch den zehnten Teller.

Andere Versionen variieren in Details. Manchmal war es der Samurai, bei dem sie arbeitete, der sie als Frau wollte, aber sie wies ihn ab. Er ließ selbst einen Teller verschwinden und bedrohte Okiku sie öffentlich zu beschuldigen. Aus Verzweiflung sprang sie in den Brunnen und ertrank.

Ein anderes Mal soll sie den Teller selbst zerbrochen haben und von ihrem Herrn zur Strafe getötet worden sein. Ihr Leichnam wurde dann in den Brunnen geworfen.

Noch eine Version erzählt davon, dass die Frau des Samurais einen der zehn Teller zerbrach und das Mädchen dafür beschuldigte. Auch hier ereilte Okiku die Strafe des Totschlags durch ihren Herrn und sie landete tot im Brunnen.

Egal welche Version erzählt wird, immer erfährt die arme Okiku übertriebene Grausamkeiten und findet ihr Ende in den kalten Tiefen. Auf ewig krallt sich ihr Geist an das Geschehen fest und sie zählt wieder und wieder von eins bis neun, in der Hoffnung, irgendwann den zehnten Teller zu finden.

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Nachwort von Ellen

Eine der vielen Geistergeschichten Japans, die weithin bekannt sind und viele unterschiedliche Versionen haben. Je nachdem in welcher Region man dieser Legende begegnet, variiert sie in Kleinigkeiten.

Viele Legenden haben regionale Ausformungen und können sich so manchmal mehr oder weniger unterscheiden. Meistens jedoch findet sich zumindest ein Grundthema oder ein Kern, der einander sehr ähnlich ist.

Okiku gehört auch zu den ungefährlicheren Geistergeschichten. Trotzdem kann natürlich eine Begegnung durchaus Spuren hinterlassen. Kontakte mit der Geisterwelt sollte man, ob harmlos oder nicht, nie auf die leichte Schulter nehmen. Allerdings stattet man doch lieber einer Okiku einen Besuch ab, als dass man sich einer bösartigeren Figur nähert. Und vielleicht hilft es dem Geist ja auch seine Ruhe zu finden, wenn man ihm die »zehn« entgegen ruft.

So oder so, überlegt euch, ob ihr einen Blick riskieren wollt.

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